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Reisebericht: 250 Meilen Gastfreundschaft

Letzte Änderung 26. Februar 2015

39 more selfies - please excuse

Normalerweise hasse ich Geschichten mit einem kitschigen Einstieg. Und was wäre schon kitschiger als eine Postkarte – besser gesagt: Weihnachtspost. Normalerweise bekam ich nie welche. Das ist in etwa so, als hätte mir ein heimlicher Verehrer plötzlich einen Kanister Rosen vor die Tür gekippt. Dem eigenen Spießertum zum Trotze kommt man nicht umhin einen kurzen Blick in den Umschlag zu werfen. Nur einen kurzen. Und nur um zu überprüfen, ob die darin befindliche Briefkarte tatsächlich für einen selbst bestimmt ist…


Die Handschrift hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein Kryptograph hätte an ihr sein größtes Vergnügen gehabt. Instinktiv kam mir bereits, dass der Schreiberling wohl ein zwei Generationen älter sein musste als ich. Und dann auch noch die Unterschrift: Hermann und Wilhelmine? Mein Namensgedächtnis war zwar miserabel, aber ein solches Pärchen kannte ich tatsächlich nicht. Bis ich endlich noch einmal den Absender überflog und ein Flashback einsetzte, wie man es sonst nur aus kitschigen Filmen kennt …

Tatsächlich war ich den beiden in Persona begegnet – wenige Monate zuvor und an einem der sicherlich verrücktesten Tage des gesamten letzten Jahres. Es begann schon damit, dass ich am Morgen in einem heruntergekommenen Studentenwohnheim irgendwo in Canterbury aufwachte. Gut, ich war auf der Durchreise. Da strandet man schon an den entlegensten Stellen. Doch die Tatsache, dass ich mich auf dem harten Fußboden wiederfand und um Punkt acht Uhr auch noch der Feueralarm einsetzte, gaben mir zu verstehen, mich schleunigst vom Acker zu machen.

Schon am Busbahnhof meldeten sich erste Anzeichen, dass der Tag ein besonderer werden sollte: Erst traf ich auf einen österreichischen Archäologen, später auf eine Japanische Soziologin. Alle drei Musketiere auf einer anderen Irrfahrt. Mich zog es weiter Richtung Dover…

Die Docks und die Weißen Klippen dürften so ziemlich allen bekannt sein, die die Britische Insel nicht aus einer Fliegerröhre betretet haben. Es war bereits Mittag, als ich endlich auf einem dieser riesigen schwimmenden Hotelanlagen stand. Noch einmal ließ ich meinen Blick über den Hafen schweifen, den man mit unzähligen Litern Beton aus dem Meer gestampft hatte. Dann hieß es: Farewell, England! Die See war zwar rau, doch die Sonne schien. Kein Grund für einen Abschiedsgruß über der Rehling.

Als die Fähre schließlich ablegte, wurde mir bewusst, dass ich wieder einmal völlig in der Luft hing. Ich sah zu wie sich mein Reiseweg hinter mir in der Gischt auflöste. Und der Weg vor mir…? – Der ‚Plan‘ war bis nach Hause zu trampen. Bis nach Karlsruhe. Von Calais lag da schon ein gutes Stück Belgien dazwischen. Ein gutes Stück Holland... Und außer meinem Kumpel in Maastricht hatte ich keine Anlaufstelle. Kein Auto. Nur meinen Rucksack und eine ordentliche Portion Leichtsinn im Gepäck.

Ich rechnete mit einer halben Woche und sah mich bereits drüben in Calais nach einem Hostel erkundigen – mit Händen und Füßen ringend. Französisch beherrschte ich kein Wort. Sicherlich wäre alles so ganz anders gekommen. Alles wäre so viel mühseliger geworden, wenn ich nicht zum rechten Zeitpunkt aufs Oberdeck gestolpert wäre… Wenn das Wetter nicht so herrlich gewesen wäre… Oder wenn ich nicht zum richtigen Augenblick gelächelt hätte…

Das ältere Pärchen stand einfach an der Reling und fotografierte sich vor den leuchtenden White Cliffs. Aus einer Laune heraus bot ich mich an, sie zu zweit abzulichten. Sie waren ganz begeistert von meinem Bildausschnitt und wir kamen ins Plaudern. Nach einer geschlagenen Viertelstunde wieder die übliche Erkenntnis: „Ach, Sie kommen aus Deutschland?! Ja, dann brauchen wir uns nicht auf Englisch zu unterhalten.“
 

Ich schätzte beide etwa um die siebzig. Rentner, ohne Zweifel, aber trotz oder gerade durch ihr langes Leben immer noch voller Enthusiasmus, Abenteuerlust und Zuversicht. Wieso sonst standen sie während der gesamten Überfahrt draußen auf Deck und ließen sich den Seewind um die Ohren pfeifen? Sie fragten mich, wo meine Reise denn hinführte – „Ach, für’s erste bis nach Calais und dann auf kurz oder lang irgendwie zu meinem Freund nach Maastricht. Als Hitchhiker lässt sich das schwer vorausplanen.“ Und ich fragte sie nach ihrem Reiseziel – „Zurück nach Köln. Nach Hause zu unseren Kindern und Enkeln.“

40 Farewell England


Bereits bei der Erwähnung ‚Köln‘ klingelten bei mir die Alarmglocken. Genau meine Richtung. Aber ich traute mich nicht zu fragen. Ich wollte nicht unhöflich sein. Vielleicht hatte der ältere Herr meine Gedanken gelesen. Wir waren fast schon über dem Ärmelkanal, als er plötzlich meinte:

„Also wissen Sie, wenn Sie wirklich nach Maastricht wollen – was ja quasi auf unserer Route liegt – können wir Sie auch gerne ein Stückchen mitnehmen.“ Wieder schlug der Wind um und wir suchten an einer Sitzbank Halt. Hatte ich richtig gehört? Beide lächelten mich an. Ohne Zweifel. Wie konnte jemand so unverschämtes Glück besitzen?

Nach einem abschließenden Toilettengang („Always travel light.“ hatten mir beide geraten) fand ich mich in einem noblen Familienauto wieder. Es war bereits später Nachmittag als wir die belgische Grenze passierten – die Zeitumstellung hatte uns eine Stunde gekostet. Hätte ich die beiden nicht getroffen, würde ich vermutlich noch immer im Hafenlabyrinth von Calais festsitzen.

Die Autofahrt war sicherlich eine der kurzweiligsten, die ich bisher hatte. Immerhin hatten wir drei Lebensgeschichten auszutauschen – nicht zu schweigen von den Picknick-Leckereien. Ein bisschen fühlte ich mich, als wäre ich mit meinen Großeltern unterwegs. Vorbei am Stau bei Brüssel und schließlich bis kurz vor Maastricht. Wir hatten ausgemacht, dass sie mich am nächstgelegensten Ort auf ihrer Strecke absetzten. Doch es gab so viel zu lachen, bis sie plötzlich beschlossen:

„Ach eigentlich erwartet uns heute Abend auch keiner mehr daheim. Und ob wir nun ein paar Stunden später ankommen, macht nun auch keinen Unterschied. Wir bringen Sie gerne bis ins Zentrum von Maastricht.“
Ich begann lautstark zu protestieren. Das war schlichtweg zu viel der Großherzigkeit. So etwas konnte ich in keinem Fall zurückzahlen. Aber sie hatten bereits die Autobahnausfahrt genommen. Und wie betroffen fühlte ich mich erst, als wir so lange durch das Häuserlabyrinth irrten.
„Sie können mich auch wirklich einfach hier herauslassen.“
„Papperlapapp. Es ist schon spät und wir bringen Sie auf alle Fälle noch bis zu einer Stelle mit Anschluss an öffentlichen Nahverkehr.“ Die wirr beschrifteten Schilder machten es meinen beiden Rettern wirklich nicht leicht. Ohne Navi und Autoatlas schien uns die Stadt ständig aus ihrer Umlaufbahn hinauszubefördern, so als besitze sie in ihrem Inneren ein streng gehütetes Geheimnis.
 

47 River Maas1


Es hatte über eine Stunde gedauert, bis wir Maastricht Hauptbahnhof erreicht. Glücklicherweise gab mir der ältere Herr seine Visitenkarte mit – Manfred und Wilhelmine. Natürlich erinnerte ich mich an die beiden. Gleich nach Ende meiner Reise hatte ich ihnen einen sehr langen, sehr lieben Brief geschrieben – mit den schönsten Fotos meiner Reise bestückt und einem herzlichen Dankeschön. Ich hatte nie eine Antwort erhalten. Hatte auch nie eine vermisst, denn im Hamsterrad des Alltags vergisst man schnell die kleinen Besonderheiten, die das Leben ausmachen… Bis ich diese kitschige Grußkarte in Händen hielt. Weihnachtspost von Menschen, die ich nur flüchtig einen Tag lang begleitet hatte…

„Ich würde Sie beide wirklich gerne auf einen Kaffee einladen. Aber es ist schon spät und ich schätze, Sie wollen auch irgendwann daheim ankommen.“ Irgendwie hatte ich doch noch meinen Rucksack aus dem kleinen Kofferraum bekommen. Mittlerweile war es Zappen duster. Nur im Hintergrund leuchtete der Maastricht-Hauptbahnhof. Ich hasse Abschiedsfloskeln. Und dabei kannten wir uns erst seit ein paar Stunden:

„Sagen Sie mir nur: Wie kann ich mich je bei Ihnen revanchieren?“ Beide umarmten mich nur warmherzig, bis schließlich Hermann mit einem kecken Grinsen meinte: „Ach wissen Sie. Wenn Sie irgendwann mal Familie besitzen und ein wohlhabender junger Mann sind. – Wenn Sie mit ihrem Auto unterwegs sind und am Straßenrand einen armen Schlucker sehen, dann denken Sie einfach an uns und nehmen ihn mit.“ Mehr wollten sie nicht. Mehr brauchten sie nicht. Den Gefallen weiterschenken. So lautet das Credo der
Reisenden...

Nur wenige Minuten später holte mich mein Kumpel am Hauptbahnhof ab – strahlte mich völlig entgeistert an: „Wie zum Teufel hast du das geschafft?! Als Tramper von Canterbury bis Maastricht und das an nur einem Tag?!“ Ich konnte es ihm nicht erklären. Es hatte alles mit einem Lächeln begonnen. Plötzlich erinnerte ich mich an einen Spruch, den ich auf meiner aberwitzigen Reise aufgeschnappt hatte: Es gibt noch immer Wunder und Heilige auf dieser Welt. Man muss nur immer wieder aufs Neue lernen hinzuschauen.

Philipp Neuweiler

45 Beautiful Maastricht - Netherlands

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