Durch die Wüste
21. Juni 2023
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Story
Wir rasten auf dem Machaneh Yehudah. Dem größten Markt in ganz Israel. Um uns wuselt es wie in einem Bienenstock. Stimmen, Gerüche, Waren. Ein orientalischer Bazar, in dem es alles zu geben scheint: Von der Kippa mit dem FC-Bayern Logo bis zur Torte aus „Halva“ - ein Mus aus Ölsamen, Zucker und Honig.
Während wir Schakschuka und Humus löffeln, deutet mein Freund Axel auf seine Handykarte: „250 Kilometer sind es von hier über das Tote Meer bis runter nach Mitzpe Ramon“, erklärt er, „Das sind etwa dreieinhalb Stunden auf dem Firehorse.“ Damit meint er seinen schwarzen Motorroller, den er liebevoll umgetauft hat, nachdem ich ihm erklärt habe, was es mit dem deutschen Begriff „Feuerross“ auf sich hat.
Mir wird schwindelig bei der Route. Dreieinhalb Stunden durch die Wüste bei schätzungsweise 40 Grad. Schon jetzt im städtischen Getümmel von Jerusalem drückt die Sonne. Verbrennt mir an jeder Ampel erbarmungslos den Nacken. Daueralarm für meine Vampirhaut.

Axel und ich am südlichen Ende des Toten Meeres. | Foto: Axel Barzilai.
Ich trinke mein Wasserglas leer. Schaue bedröppelt auf das winzige Fläschchen mit Sonnencreme, das mir mein Mitbewohner Max noch mit auf die Reise gegeben hat. Nur für alle Fälle. – Danke Max. Danke, dass immerhin du für mich vorgesorgt hast …
Habe ich schon erwähnt, dass ich ein Motorrad-Schisser bin? Bis auf wenige Landstraßen früher mit meinem Vater habe ich null Erfahrung. Als Axel mich dann vorgestern das erste Mal auf den Highway mitgenommen hat, war das für mich wie Bungee-Jumping. Hinein in eine Welt aus Wind und dahinflutender Landschaft. Ich – verkrampft hinten auf. Ein Menschenrucksack, nein, mehr hilfloses Fleischpacket, das sich machtlos an den Fahrer klammert und die härteste Übung in Meditation durchsteht … Denn wie bitte trickst du dein eigenes Gehirn aus, damit die Panikgedanken nicht überhandnehmen?
Ich liste also auf: Standstreifen. Baustellen. Autos. Verkehrsschilder. Liste, alles was ich sehe, spüre, rieche, höre. So rasend schnell, wie ich kann. Ein Wettrennen mit meiner eigenen Panik … Hebräische, Englische, Arabische Ortsnamen. LKWs. Gitter. Federn. – Waren das Hühner in dem Transporter? Strommäste. Autos. – Wenn ich mich zu weit rauslehne, bin ich tot …Na na na na … Kopfradio an. Gut so. Ja, ich erinnere mich ganz genau an diesen einen Song. Von Anfang bis Ende. Merke, wie es mich beruhigt. Hoffentlich ist die Musik lang genug. Fuck, ich brauche gleich ein neues Lied. Nein, eine ganze Playlist, für mein Kopf-Radio …
Ich verliere das Zeitgefühl … Atmen … ja, atmen ist gut. Fahrtwind. Kratzer im Helmvisier. Ein Friedhof aus Plexiglas. Für Käfer und Fliegen. Weiteratmen. Ruhiger werden. Ich spüre meine Füße nicht mehr. Scheiße, sind die eingeschlafen? Wenn ich jetzt die Beine ausstrecke, was würde passieren? Zerraspeln meine Füße einfach auf dem Asphalt? … Na na na na … Kopfradio lauter … Wind. Überall Wind. Ein Tunnel. Puh, wir werden etwas langsamer. Verdammt mein Fuß wird steif. Weiter … atmen …
Und irgendwann erreichen wir Jerusalem. Einen Ort, den ich nur aus Legenden kenne. Der Bibel. Dem Geschichtsunterricht … Und wie passend – denke ich – dass ich diese ‚Heilige Stadt‘ in betender Haltung betrete. Mit gefalteten, schweißnassen Händen, um mich so auf dem Motorrad zu halten. Der Kopf voller Erleichterung und einem zynischen „Halleluja!“ diese Fahrt überlebt zu haben.
Aber hey, ich wollte die Wüste sehen. Nicht mehr nur darüber lesen, hören, irgendetwas konsumieren. Sondern sie selbst mit ganzem Körper und allen Sinnen erleben, durchleben, überleben …

Auf dem Weg zum Firehorse. | Foto: Axel Barzilai.
Vermutlich ist das normal für ein richtiges, ein „echtes“ Abenteuer. Also das, was alle immer predigen: Du musst aus deiner Comfort Zone. Dich einfach hineinstürzen. Zulassen, dass der Wahnsinn irgendwie seinen Lauf nimmt und das Ganze – so gut es irgendwie geht – genießen …
Also „Jalla!“, wie Axel sagen würde. „Los geht’s!“ Mit dem Firehorse schlängeln wir uns durch die vollgestopften Gassen. Ich versuche mich mit Axels Krücken zu arrangieren, die wir an seinen Roller festgesurrt haben. Vor ein paar Tagen hat er sich den Fuß beim Kite-Surfen verdreht und trägt das linke Bein seither in Schienen. Park-Spaziergänge sind zwar passé, aber für einen Motorrad-Höllenritt durch die Wüste ist es kein Hindernis.
Bevor wir Jerusalem verlassen, dreht Axel noch ein letztes Mal bei, als habe er etwas Wichtiges vergessen. In einem Kiosk kauft er uns eine zwei Liter Flasche mit Wasser. „Für den Worst Case – falls wir irgendwo in der Wüste stranden.“ Dann grinst er mir zu: „Nächster Halt: Der tiefste Punkt der Erde!“
Ein letzter Blick auf die Skyline – der Felsendom zu unserer Rechten. Dann senkt sich der Highway in die Tiefe durch Felsenschluchten. Denn das Tote Meer liegt rund 430 m unter dem Meeresspiegel. Plötzlich sind wir mittendrin: In der judäischen Wüste. Felsen. Sand. Vereinzelt Sträucher. Wadis. Backofen-Luft. Mit unseren pechschwarzen Klamotten und dem Bike klebt sich die Hitze an uns fest. Sonne im Zenit. Alles hier will dich brennen sehen …

Kalia Beach. | Foto: Axel Barzilai.
Wir rasten an der Kalia Beach. Am nördlichen Ende des Toten Meers. Außer Touri Busse und LKWs hab ich kein einziges Motorrad gesehen. Offenbar ist niemand so bescheuert wie wir hier rauszufahren. Ein Kamel empfängt uns, das tapfer in der Sonne steht und recht unbeeindruckt davon wirkt. Ich reiße mir den Helm vom Kopf. Triefe vor Schweiß. Normalerweise schwitze ich kaum. Aber die Sonne saugt uns aus wie Dörrobst. Trinkt uns leer. Unerbittlich. So muss sich ein Fisch anfühlen, der in ein kochendes Becken geworfen wird und weiterschwimmen muss. Hitze, Trägheit, Durst, das alles lässt sich für den Moment ertragen. Denn noch überwiegt die Begeisterung die Wüste endlich einmal selbst zu schmecken.
Wir betreten „The Lowest Bar in the World.“ Ich stürze eine zwei Literflasche in wenigen Zügen. Axel bestellt Eis. Dann warten wir. Sitzen einfach nur da. Für zwanzig Minuten. Völlig ausdruckslos und schlürfen unser Eiswasser. Bis die Gehirne wieder anfangen zu arbeiten.

Schlammbad im Toten Meer. | Foto: Axel Barzilai.
Den Nachmittag verbringen wir am Toten Meer. Salz – zehnmal so viel wie im Ozean. Es lässt dich schweben. Dringt dir in jede Pore, jede noch so kleine Narbe. Es beißt sich in deine nackten Füße, als würdest du über offene Herdplatten laufen.

Mit dem Firehorse durch die Wüste.
Und weiter geht’s. Gegen 16 Uhr hat die Sonne bereits an Kraft verloren. Aber es ist noch ein langer Ritt bis Mitzpe. Die Maschine faucht auf und wir brettern über eine Serpentinen-Strecke Richtung Süden. Zu unserer Rechten: Die Steilhänge der judäischen Wüste in deren Schatten wir immer wieder eintauchen. Und links: Das Tote Meer, tief unten im Jordangraben. Ein gigantischer Riss in der Erdkruste. Seit 18 Millionen Jahren schrappt hier die Arabische Platte gegen die Afrikanische. Ich erkenne Berge auf der gegenüberliegenden Seeseite. Das muss Jordanien sein.
Nur fürs Protokoll: Motorräder sind mir immer noch suspekt. Aber auf diese Weise mit dem Firehorse durch die Wüste zu kurven ist „fucking awesome“. Statt isoliert in einem fahrenden Buskühlschrank vor sich hinzufrieren, spüren wir die Landschaft … die Vibration der Straße … wie sich der Highway an die Abhänge schmiegt … Mir bleibt keine Zeit mehr in Panik zu verfallen …
Dann rasten wir. Saugen das Panorama auf. Lauschen. Wenn die Autos verschwinden, dann senkt sich eine Stille über die Weite, wie ich sie nicht kenne. Natürlich bleiben vereinzelte Vogelrufe. Das Knistern der Hochspannungsleitung. Aber die Stille ist so tief, dass wir jede unserer Körperbewegungen wie durch ein Mikrophon wahrnehmen.
Und weiter geht’s. Wir passieren die Grenzkontrolle. Raus aus dem Westjordanland zurück nach Israel. Vorbei an Wüstendörfern. Militär Areale. Kamel Farmen. Salzbänken, auf denen Menschen ins Meer vorlaufen – als würden sie auf dem Wasser gehen. Am südlichen Ende erhebt sich eine Fabrikstadt aus dem Sand, die gleich einem Stahlungeheuer Salz und Magnesium aus der Erde schürft.
Wir tanken ein letztes Mal voll, denn nun geht es so richtig hinein in die Negev. Die Luft wird staubtrocken. Felsen glühen von der Nachmittagssonne. Immer tiefer tauchen wir ein in die verschlungenen Canyons. „Negev“, das kommt aus dem Aramäischen und heißt „vertrocknetes Land“. Alles Leben hier ist ein „Trotzdem“. Ein stummer Protest. Purer Ausdruck von Überlebenswille.

Jordanien in weiter Ferne. | Foto: Axel Barzilai.
Als wir einen LKW passieren, schmettert sich plötzlich ein Gewicht gegen uns. Als würde sich ein unsichtbares Tier gegen das Motorrad werfen. Für den Bruchteil einer Sekunde verlieren wir das Gleichgewicht. Axel reißt den Lenker herum. Stemmt sich mit aller Kraft dagegen. Ich verkrampfe, doch er hält das „Firehorse“ stabil. – Das war der erste Vorbote, von dem was uns erwartet: Wind. Mit der Dämmerung stürzt er uns von allen Seiten entgegen. Schüttelt uns durch. In unberechenbaren Stößen. Er heult durch die Felsspalten. Strömt an den Canyons vorüber. Autos und Busse peitschen ihn uns um die Ohren. Sturzbäche, Fluten aus Wind.
Dreimal sehen wir die tiefrote Sonne hinter den Felsschluchten unter- und wieder aufgehen. Bis sie endgültig verschwindet.

Der Krater von Mitzpe Ramon.
Axel beschleunigt, um die Böen wie ein Messer zu durchschneiden. Alles vibriert. Nach stundenlanger Fahrt verkrampft sich mein Körper immer mehr bei dem Versuch unserem unsichtbaren Gegner Stand zu halten. Ich kann einfach nicht mehr und mache das vereinbarte Zeichen für „Anhalten“ und klopfe Axel auf die Hüfte.
Wir rasten. Streifen uns Pullis über, weil es doch allmählich frisch wird. „Jetzt kennst du die Erzfeinde der Motorradfahrer“, erklärt er mir, „Regen, Schlaglöcher, Wind, Nacht …“ Dabei zieht er an seine Zigarette. Schaut mich mit einer tiefen Ruhe an. Ja, denke ich, er ist wirklich ein Mensch der Geschwindigkeit. Ganz bei sich, wenn die Landschaft an ihm vorüberströmen. Und seine Gelassenheit lässt auch mich ruhiger werden. Seit fast vier Stunden donnern wir hinein in diese ungeheure Leere. Eine Weite, die kein Erbarmen kennt. Und doch hält er mich fest mit seinem Lächeln.
Weiter geht’s. Mittlerweile hat die Dämmerung die Berge verschlungen. Schatten werden zu Silhouetten und verschmelzen mit der absoluten Dunkelheit. Die Straße: Nur noch eine gestrichelte Linie, auf der uns der Wind durchschüttelt und Schlaglöcher im Lichtkegel entgegenblitzen. Selbst die Autos der Beduinen sind nicht mehr unterwegs. Wir sind alleine.
Meine Augen klammern sich an jedes Licht, das am Horizont aufleuchtet. Mit jedem Funke keimt und stirbt die Hoffnung, dass wir endlich da sind. Weiter … nur noch ein Stück … Irgendwo da draußen muss sie schließlich sein …Die Stadt in der Wüste … Nur weiter … immer weiter …

Axel und ich kurz vor dem Sonnenuntergang. | Foto: Axel Barzilai.
Ich seufze, als wir endlich den Highway verlassen und ich die Aufschrift „Mitzpe Ramon“ lese. Axels Freund Reem empfängt uns vor seiner Wohnung. „Ich dachte ihr kommt mit dem Bus“, ruft er uns entgegen, „Ihr seid ja total verrückt!“
Ich werfe einen Blick rüber zu Axel, der wie ich erschöpft in sich hineinlächelt. Auch für ihn mit seinen vielen Jahren Erfahrung war es die intensivste Motorradfahrt seines Lebens. Wir teilen ein Geheimnis, das sich schwer in Worte fassen lässt. Es hat mit der Wüste zu tun. Ihrer Leere. Und unserem tiefen Vertrauen ineinander, dass wir irgendwann ankommen werden.