Scotts Hütte
19. Nov 2022, Mainz
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Ich beim Künstlerschlussverkauf am 19. Nov 2022 | Foto: Yasmin Abbas.
Story
An diesem Abend siehe ich sie zum ersten Mal in meinem Leben.
Es ist nicht mal eine Woche her, seit ich hier gelandet bin. McMurdo. Oder MacTown, wie sie hier sagen. Die südlichste Stadt der Erde. Steve hat mir sein Schneemobil geliehen, mit dem ich raugefahren bin – nach Cape Evans auf Ross Island. Wie ein roter Pinguin sehe ich aus in meinem Extremkälte Anzug. Umgeben von blutrotem Eis – denn der Sonnenuntergang jetzt im März zieht sich über mehrere Stunden.
„Pass auf den Sastrugi auf“, hat mich Steve noch gewarnt. Das sind die Eisrillen, die vom Wind geformt werden. „Bei den Temperaturen sind die so hart als würdest du über Betonwellen brettern.“
Ich habe ihm erklärt, dass ich „Scott’s Hütte“ besichtigen möchte. Eine kleine Bretterbude, errichtet vor über hundert Jahren von der Terra Nova Expedition. Das Ding ist eine Zeitkapsel. Ein Basislager aus dem Jahr 1911, bestückt mit allerlei Vorräten – die meisten davon sind vermutlich immer noch essbar. Denn die Zeit selbst gefriert an diesem Ort.
Doch zugegeben: Ich bin nicht ganz ehrlich gewesen zu Steve. Robert Scott und sein Himmelfahrtskommando zum Südpol interessieren mich kaum. Es ist vielmehr die Stille, die mich an diesen gottverlassenen Ort hinauszieht.
Seit meiner Ankunft weiß ich, dass ich sie liebe – die Antarktis. Ich meine hey, es gibt hier keinen Atommüll, keine Industrie, keinen Tagebau, kein Militär … Nur ein paar verrückte Wissenschaftler:innen, Abenteurer. Menschen, die sich nicht zu schade sind Monate bei Extremkälte und Dunkelheit auszuharren. Wir sind über die Karte geflogen. Über den Rand der Welt. Und jede hier hat ihre eigene Geschichte im Handgepäck.
Auch mein Erinnerungs-Rucksack wiegt einige Pfund. Es war nie mein Plan so weit in den Süden zu reisen. Wollte einfach nur raus. Weg aus meinem alten Leben. Ich bin einfach einer Stimme gefolgt. Einem Wispern,
das über die Jahre zu einem unbändigen Sog angeschwollen ist.
Meine Beziehung lag in Scherben. Nur ein Satz, der nachbrannte: „Ich habe mit ihm geschlafen.“ Aufgelegt. Und das Herz lag in Stücke gerissen da.
Ich habe mich in Arbeit gestürzt. Unzählige Stunden am Schneidetisch. Puzzelte die Ausschnitte fremder Leben zu Filmen aneinander. Und mein Eigenes? Das habe ich wohl verträumt. Stunden, Tage, Monate nur vor den Bildschirmen …
Bis dieser Zug vor mir stehenblieb, beschriftet mit dem Namen einer europäischen Großstadt. Aber greifen ließ sie sich nicht. Weil ich nie dort gewesen bin. Es war eben nur ein Name.
Da zog es mich durch die Waggon-Tür. Und was erst nur eine Gedankenspielerei war, eine verbotene Vorstellung, wurde zur Wirklichkeit. Plötzlich wusste ich mit einer Entschlossenheit, wie ich sie seit Jahren nicht empfunden hatte, dass ich mich nicht umdrehen würde.
Meine Arbeit, die kaputte Beziehung, diese von Erinnerungen überfrachtete Stadt … alles verbannte ich ins Gestern. Die Kündigung verschickte ich in einem Internet-Café. Meine Freund:innen und Verwandte beruhige ich, indem ich einen Reiseblog anfing. Dabei fiel alles auf einmal so leicht. Oder wie mein Großvater immer gesagt hatte: „Selbst eine Reise von tausenden Kilometern beginnt mit einem allerersten Schritt.“
Es zog mich immer weiter in die Ferne. Nach Singapur, Australien, Neuseeland. Hauptsache die Landschaft blieb im Fluss. Die Gesichter, denen ich begegnete. Das Leben atmete. Ich spürte wieder seinen Puls. Verlor mich, um wieder jemand sein zu können. Lernte, dass ich leicht an Menschen anknüpfen kann. Fremde, die zu meinen Reisebegleitern wurden. Begriff, dass Liebe und Freundschaft keine Objekte sind, die du verlierst, sondern Kräfte, die aus dir selbst strömen …
Eine Yogalehrerin, mit der ich zwei Wochen auf Roadtrip war, hat mir in Christchurch einen Job vermittelt. Als Research Assistent in einer Antarktis-Station. Eigentlich dachte ich Neuseeland ist die weiteste Distanz, die ich zwischen mir und meinem alten Leben schaffen kann. Aber es geht eben noch weiter.
Der Flug runter auf den Südkontinent dauert acht Stunden, wobei wir zwei Tage in Folge immer wieder starteten und auf halber Strecke umkehrten. Das Wetter am Südpol war zu stürmisch. Dann beim dritten Versuch klappte es endlich.
Unterwegs lernte ich den Feuerwehrmann Raoul, die Astrophysikerin Gracy, sowie zwei Reporter der National Science Foundation kennen. Verständigen konnten wir uns allerdings nur mit Händen und Füßen. Die vier Propeller der Lockheed dröhnten so brachial, dass wir die Vibration im gesamten Flugzeugrumpf spürten und Ohrenstöpsel tragen mussten. „Gepäckklasse“, hatte Gracy noch gewitzelt. Aber es beschrieb den Komfort in diesem vollgestopften Frachtraum wohl am besten. Ich kam mir vor wie bei einer Militäroperation. Eingequetscht zwischen Sauerstoffflaschen und allerlei Kisten, die mit Spanngurten vertäut waren. Irgendwann passierten wir den Polarkreis. Und ich erkannte unter uns die ersten Eisschollen. Wie zerbrochene Porzellanscherben trieben sie auf dem tiefschwarzen Ozean.
In McMurdo war dann das Schelfeis bereits so dick zugefroren, dass unser Flugzeug darauf landen konnte. Die Luke öffnete sich und schleuderte uns eine Lawine aus Eisluft entgegen. Minus zwanzig Grad. – Schöner Kontrast, zu den Plus zwanzig in Neuseeland. Willkommen auf dem 77sten Breitengrad Süd.
MacTown ist so unglaublich hässlich, dass es auf seine Weise Charme besitzt. So stelle ich mir eine Goldgräber-Siedlung vor in einem modernen Schnee-Westen. Schlammige Straßen, bevölkert von Monstertruck-Bussen mit Reifen so groß wie Menschen. Lieblose Industrie-Gebäude, verstreut auf einer Anhöhe, von der aus man hinaus auf das zugefrorene Meer blicken kann. Etwa eintausend Menschen leben hier im Sommer. Es ist die größte Siedlung der Antarktis und Dreh und Angelpunkt für die umliegenden Forschungsstationen.
Ich glaube man muss schon ziemlich verrückt sein um hierher zu kommen. Antarktika ist nicht nur der kälteste Kontinent. Sondern auch der windigste, der höchste, der trockenste, der isolierteste und – bei all diesen Annehmlichkeiten natürlich auch – der am wenigsten besiedelte. Böse Zungen behaupten, dass weite Teile der Mondoberfläche besser erforscht sind.
Doch diese Welt hat auch etwas, das sich schwer in Worte fassen lässt. Jahrmillionen alte Gletscher. Eine Wüste, geformt aus achtzig Prozent der Süßwasservorräte unseres Planeten. Eis, das die Geschichte von Äonen erzählt.
Den letzten Weg zu Scotts Hütte muss ich zu Fuß weiter. Nacktes Vulkangestein ragt hier aus dem Schnee. Ich schaue hinter mich auf einen dampfenden Berg. Der südlichste, aktive Vulkan unserer Erde. Obwohl er schneeweiß ist, trägt er den Namen des Gottes der Finsternis: Mount Erebus.
Von der Abendsonne ist kaum noch was übrig. Nur der Mond leuchtet so hell, dass ich mühelos eine Zeitung hätte lesen könnte. Ich passiere ein Holzkreuz, das von den Verunglückten der Shackelton Expedition zeugt, die hier zu Tod gekommen sind.
Was mache ich hier eigentlich?, frage ich mich. Vielleicht war das doch eine ziemlich bescheuerte Idee hier rauszufahren ...
Ich glaube, ich suche das Ende. Die Sackgasse. Den äußersten Punkt, der mich schon so lange zu sich ruft. Weiter komme ich wohl nicht von zuhause weg. Habe mich immer gefragt, was dann wohl passieren wird. Also wenn du die letzte Schwelle überschritten hast und da nichts mehr ist. Keine Gesichter, keine Menschen mehr. Nur du und die Stille.
Mit gezückter Taschenlampe gehe ich in die Hütte. Betrete ein anderes Jahrhundert. Tot wirkt dieser Ort. Vermutlich, weil vom Leben noch so viele Überreste zeugen. Es ist als wären Scott und seine Männer erst vor wenigen Minuten aufgebrochen.
Auf dem Tisch steht noch ein Wasserkrug. Darunter eine Londoner Zeitung, datiert auf das Jahr 1912. In der Küche hängen Schöpfkellen und Tassen neben unzähligen Konservendosen. Tonnenweise Proviantkisten stapeln sich zu Wänden empor. Ich passiere die Pritschen der Offiziere. Die Stockbetten der Mannschaft. Ein altes Fotolabor. Stolpere beinahe über die kleinen Topf-Öfen. Hier eine Kiste mit Hunde-Biskuits. Daneben Pinguin-Eier. Robbenspeck, das von der Decke baumelt. Und im Pferdestall entdecke ich das Skelett eines Huskys, der noch Halsband und Leine trägt.
Ich muss an Laika denken. Der alte Hund meiner Familie. Und der Gedanke macht mich traurig, dass dieser Vierbeiner hier alleine zurückgelassen wurde. Ich knipse die Taschenlampe aus. Lasse den Knochenhaufen in der Stille zurück. Vielleicht – denke ich – ist da auch nichts am Ende des Weges. Nur Vergänglichkeit und Kälte …
Etwas regt sich. Draußen am Nachthimmel. Erst ist es nur ein Gefühl, ein Impuls, der mich wieder hinauszieht. So als wäre etwas im Anmarsch – dabei bin ich alleine. Ganz bestimmt. Totsicher.
Erst halte ich es nur für eine Wolke – nein – mehr einen dünnen Wolkenfaden, der sich da über Mount Erebus bildet. Aber er schimmert grünlich. So als hätte irgendein Gott mit Tinte aus Licht einen Strich ans Firmament gepinselt.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag: Die Aurora. Die Südlichter.
Ich habe noch nie welche gesehen. Zücke meine Kamera, nur um ganz sicher zu gehen. Zoome heran. – Zweifellos. Das sind keine Wolken. Dafür bewegen sich diese Gebilde zu schnell. Wie glühende Farben pulsieren sie für wenige Sekunden und verschmelzen dann mit dem pechschwarzen Sternenhimmel. Ein ätherisches Leuchten, das sich immer und immer wieder zu erneuern scheint.
In Gedanken meldet sich die Stimme meines Großvaters. Er hat mir immer vorgeschwärmt: „Polarlichter, das sind die Eisberge der Thermosphäre.“ Ja, geschwärmt hat er und dann erklärt: „Stelle dir die Erde als Boot vor, das durch den Kosmos treibt. Der Sonnenwind, ist wie ein Fluss, der an unserem Bug, dem Magnetfeld abprallt. Und das Kielwasser dieses Partikelstromes, das sind die Polarlichter, die an uns vorüberfließen.“
Teufel es werden immer mehr. Wie ein Kind renne ich vor zur Anhöhe. Mache mir den Nacken krumm. Um dieses Feuerwerk zu bestaunen, das schon bald den gesamten Himmel einnimmt. Rottöne mischen sich zu dem Grün. Bilden Leuchtsäulen, Paläste aus Licht. Der ganze Äther steht in Flammen.
Ich weine. Kann nicht anders. Habe das Gefühl, dass mir die Tränen direkt an den Wangen festfrieren. Weil alles zusammenkommt. Die Zeit selbst wie aufgehoben wirkt … Was ist das Dasein schon als ein flüchtiges Aufleuchten, eine Farbexplosion am Nachthimmel. Das ICH zerfließt einfach. Und übrig bleiben nur noch Fäden, die uns mit all den anderen Menschen verknüpfen.
Ich sehe meine Geschwister und mich, wie wir mit Laika im Schnee herumtollen. Ein Iglu bauen. Uns in die Ferne träumen.
Sehe meine Exfreundin und muss lachen, weil sie Kälte immer so gehasst hat und sie nie im Leben mitgekommen wäre auf eine so bescheuerte Reise.
Und schließlich denke ich erneut an meinen Großvater. Er ist schon vor Jahren gestorben, als ich noch in der Oberstufe war. In meinen Erinnerungen hat er immer ein Sachbuch zur Hand. Ich glaube es war auch sein großer Traum eines Tages Polarlichter zu sehen. „Aber nicht mehr in diesem Leben, mein Junge. Nicht mehr in diesem.“
Ja, hätte mich mein Großvater nicht so gefüttert mit all diesen Geschichten. Hätte ich keine Dokumentarfilme geschnitten, die mein Fernweh befeuert haben. Hätte ich nicht den Freiraum gehabt, die die Trennung mir eröffnete – so beschissen es auch war – dann … tja, dann wäre ich vermutlich nie hierhergekommen. An den Arsch der Welt. In diese eisige Stille. Um zufällig einem Wunder beizuwohnen, das den Kopf und die ganze Seele füllt …
Und zum ersten Mal empfinde ich so etwas wie Heimweh. Spüre, dass es in Ordnung ist. So verwinkelt und kurvenreich dieser Weg auch war. Es ist alles in Ordnung. Und auf seine wirre, unbegreifliche Art wunderschön.
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