Die Handschrift hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein Kryptograph hätte an ihr sein größtes Vergnügen gehabt. Instinktiv kam mir bereits, dass der Schreiberling wohl ein zwei Generationen älter sein musste als ich. Und dann auch noch die Unterschrift: Hermann und Wilhelmine? Mein Namensgedächtnis war zwar miserabel, aber ein solches Pärchen kannte ich tatsächlich nicht. Bis ich endlich noch einmal den Absender überflog und ein Flashback einsetzte, wie man es sonst nur aus kitschigen Filmen kennt …
Tatsächlich war ich den beiden in Persona begegnet – wenige Monate zuvor und an einem der sicherlich verrücktesten Tage des gesamten letzten Jahres. Es begann schon damit, dass ich am Morgen in einem heruntergekommenen Studentenwohnheim irgendwo in Canterbury aufwachte. Gut, ich war auf der Durchreise. Da strandet man schon an den entlegensten Stellen. Doch die Tatsache, dass ich mich auf dem harten Fußboden wiederfand und um Punkt acht Uhr auch noch der Feueralarm einsetzte, gaben mir zu verstehen, mich schleunigst vom Acker zu machen.
Schon am Busbahnhof meldeten sich erste Anzeichen, dass der Tag ein besonderer werden sollte: Erst traf ich auf einen österreichischen Archäologen, später auf eine Japanische Soziologin. Alle drei Musketiere auf einer anderen Irrfahrt. Mich zog es weiter Richtung Dover…
Die Docks und die Weißen Klippen dürften so ziemlich allen bekannt sein, die die Britische Insel nicht aus einer Fliegerröhre betretet haben. Es war bereits Mittag, als ich endlich auf einem dieser riesigen schwimmenden Hotelanlagen stand. Noch einmal ließ ich meinen Blick über den Hafen schweifen, den man mit unzähligen Litern Beton aus dem Meer gestampft hatte. Dann hieß es: Farewell, England! Die See war zwar rau, doch die Sonne schien. Kein Grund für einen Abschiedsgruß über der Rehling.
Als die Fähre schließlich ablegte, wurde mir bewusst, dass ich wieder einmal völlig in der Luft hing. Ich sah zu wie sich mein Reiseweg hinter mir in der Gischt auflöste. Und der Weg vor mir…? – Der ‚Plan‘ war bis nach Hause zu trampen. Bis nach Karlsruhe. Von Calais lag da schon ein gutes Stück Belgien dazwischen. Ein gutes Stück Holland... Und außer meinem Kumpel in Maastricht hatte ich keine Anlaufstelle. Kein Auto. Nur meinen Rucksack und eine ordentliche Portion Leichtsinn im Gepäck.
Ich rechnete mit einer halben Woche und sah mich bereits drüben in Calais nach einem Hostel erkundigen – mit Händen und Füßen ringend. Französisch beherrschte ich kein Wort. Sicherlich wäre alles so ganz anders gekommen. Alles wäre so viel mühseliger geworden, wenn ich nicht zum rechten Zeitpunkt aufs Oberdeck gestolpert wäre… Wenn das Wetter nicht so herrlich gewesen wäre… Oder wenn ich nicht zum richtigen Augenblick gelächelt hätte…
Das ältere Pärchen stand einfach an der Reling und fotografierte sich vor den leuchtenden White Cliffs. Aus einer Laune heraus bot ich mich an, sie zu zweit abzulichten. Sie waren ganz begeistert von meinem Bildausschnitt und wir kamen ins Plaudern. Nach einer geschlagenen Viertelstunde wieder die übliche Erkenntnis: „Ach, Sie kommen aus Deutschland?! Ja, dann brauchen wir uns nicht auf Englisch zu unterhalten.“
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