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Reisebericht: Die Steinhütte am Ende der Welt

Letzte Änderung 03. Oktober 2014

Steinhütte am Ende der Welt

Vorwarnung: Nachfolgender Text könnte möglicherweise Landschaftsschilderungen enthalten, Schwärmereien eines nostalgischen Geistes und womöglich etwas mit Schottland zu tun haben. Ihr wollt nicht hören? Also bitteschön, dann ans Eingemachte:

Ich schnitt ein Stück vom Brotlaib ab, klatschte etwas Ziegenkäse drauf, stillte den rebellierenden Magen. Bei einem so bäuerlichen Vesper durfte ein genüssliches Schmatzen nicht ausbleiben. Später legte ich das Messer ganz beiseite und benutzte nur noch die Finger. Bei meinem Glück servierte ich mir sonst noch ein Stück vom eigenen Oberschenkel.

Immer dunkler wurde es über der Westschottischen Küste. Romantisch anzusehen, durchaus. Besonders wenn man auf dem Deck einer Fähre saß, so wie mein Kumpel und ich es taten. Dennoch beunruhigend, denn ein Schlafquartier war noch lange nicht in Sicht. In meiner Fliegertasche, die ich mit Gürtel und Seil zum Rucksack umfunktioniert hatte, befand sich nichts, dass man zum Zelt hätte ummodeln können. Abwarten – noch waren wir nicht in Port Askaig angelangt.

Die Stadt befand sich auf der Hebrideninsel Islay (sprich: Ile). Jene, die für ihren besonderen Single Malt Whiskey bekannt ist. Stadt war übertrieben – nicht mal Dorf passte. Neben der Anlegestelle kauerte ein kleiner Store zusammen mit einem Hotel. Dahinter meilenweit Natur. Nichts. Da sich sowieso kein anderes Ziel ergab, steuerten wir auf den Tante Emma Laden zu – befragten den vielleicht einzigen Einwohner.„Ihr wollt zur Mountain Bothy An Cladach – mitten in der Nacht?!Da ist man ja schon tagsüber mehrere Stunden unterwegs.“

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 Uns lief ein Schauer über den Rücken. Was jetzt? Kein Zelt, keine Unterkunft, kein Geld für ein überteuertes Hotel. Der Ladenbesitzer musste die aufsteigende Panik in unseren Gesichtern bemerkt haben. „Auf der anderen Seite – ihr habt Glück. Gerade ist Nebensaison.“ Er gebot uns ihm zu folgen, brachte uns direkt zur Rezeption des Hotels. Dort positionierte er sich erneut hinter den Empfangstisch und schob uns einen Schlüssel zu. Wie sich zu späterer Zeit herausstellen sollte, gehörte ihm auch der kleine Pub unten im Keller. Ihm gehörte einfach alles – quasi die ganze Stadt.

Er gab uns das Zimmer zum Spottpreis. Drinnen wartete ein fast großmütterliches Ambiente auf uns: Stickereien verzierten die Bettwäsche, barocke Kleiderschränke und auf dem Nachttisch eine Teekanne. Vor ein paar Minuten hätten wir noch mit jedem Stall vorlieb genommen. Umso mehr verschlug uns der ungeahnte Luxus den Atem. Uns wurden unsere schmerzenden Fußgelenke bewusst. Und als wir unsere müden Gesichter in die Kopfkissen vergruben merkten wir, wie herrlich weich so ein Bett doch sein konnte. Später gönnten wir uns Tee – einer der besten, die ich seit langem getrunken hatte.

Vielleicht wäre es an der Zeit zu klären, was uns in diese hintersten Ausläufer des auslaufenden Schottlands getrieben hatte. Nach meinem Irischen Alleingang war ich nach Glasgow geflogen, um meinen Kumpel zu besuchen. Ein Katzensprung von Dublin. Die Fliegernase  hebt sich kurz beim Start, bricht durch die morgenrote Wolkendecke, neigt sich wieder und schwupps ist man da. Fàilte gu Alba! Willkommen in Schottland! Wir wollten zu den Hebrideninseln – Wandern und die Abgeschiedenheit genießen. Auf der Karte war das gar nicht so weit weg von Glasgow. Doch nach stundenlanger Bus- und Fährenfahrt sollte ich merken, was ‚abgeschieden‘ eigentlich bedeutete. Am Folgetag spitzte sich das zu, als wir von Port Askaig in die Wildnis aufbrachen.

Vormittags gönnten wir uns einen kurzen Abstecher auf der Nachbarinsel Jura und beschlossen anschließend Richtung Bothy aufzubrechen. Dabei handelt es sich übrigens um Wanderhütten, die in den entlegensten Winkeln des United Kingdom verstreut sind. Die Sonne knallte über die verwaschenen Hügel und an den Berghängen ließen sich sogar wilde Hirsche blicken. Die waren mir lieber als die haarigen Galloways – riesige zottelige Rinder mit Stoßhörnern fast so lang wie meine Arme. Sie glotzten nur unbefangen in unsere Richtung und wir glotzten zurück. Ich vermutete, sie sind völlig harmlos, aber mein Glaube geriet schwer ins Wanken, als wir uns an ihnen vorbeipirschten. Sobald sie erstmal auf den Geschmack kämen, würde selbst das röteste Tuch nichts ausrichten. Nach ein paar Stunden Fußmarsch schlitterten wir in eine fast ähnliche Situation: Diesmal kein halbes Mammut sondern viele kleine schwarze Rinder und wir mittendrin. Ich kam mir fast vor wie in „Der mit dem Wolf tanzt“. Da es keine alternative Route gab, liefen wir zügig hindurch – wir taten ihnen und sie uns nichts. Die diplomatische Strategie. Dafür verflüchtigte sich unser Weg. Aus Asphalt wurde Schotter, aus Schotter trockene Erde, niedergetretenes Gras, dann war er plötzlich verschwunden. Als wir am Strand mit lauter Geröll und Kieselsteinen ankamen, überprüften wir die Karte: Kein Haus weit und breit, nur eine Schutzhütte ein paar Meilen vor uns – ein paar Buchten.

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Küstenweg konnte man das wirklich nicht nennen. Mehr kraxelten wir von einem Stein zum nächsten, sprangen über kleine Bachläufe, die sich links in die Schottische See ergossen, stolperten voreinander her. Mein provisorischer Schulterriemen schnitt mir immer tiefer ins Fleisch. Jedes Mal, wenn wir eine Bucht passiert hatten, hofften wir hinter dem Kamm die Hütte zu entdecken. Stattdessen weitere Buchten. Enge Buchten. Kahle Buchten. Wir hüpften von einer zu nächsten, während die Sonne langsam hinter Jura unterging. Wir wurden nervös. Aus der ursprünglich geplanten Stunde Küstenstrecke waren bereits zwei geworden. Das Geröll bremste ungemein. Gab es die Hütte überhaupt? Waren wir auf dem richtigen Küstenabschnitt unterwegs? Auf einmal zerschnitt ein breiter Fluss unseren Weg  - da war die Sonne bereits verschwunden. Aus Dämmerung wurde allmählich Nacht. Hastig suchten wir nach einer seichten Stelle, sprangen von Stein zu Stein und schafften es mit viel Geschick und Balance auf die andere Seite. Doch mit der Hoffnung war es bald zu Ende. Die nächste Bucht und noch immer keine Hütte. Wieder diese Angst des Vortages. Wieder der Vorwurf des Leichtsinns. Aber diesmal konnten wir keine Hilfe erwarten. Dafür waren wir bereits zu weit draußen, fernab der Weg und ohne Handynetz.

Im Zwielicht konnten wir einige Robben beobachten, die um das Gestein im Wasser herumtollten. Ich hätte gerne mehr Fotos geschossen, doch dafür blieb keine Zeit. Außerdem reichte das Licht nicht mehr. An einem zerklüfteten Felsvorsprung vorbei und plötzlich sahen wir sie doch: Die kleine Steinhütte am Ende der Welt – kurz bevor uns die Nacht gänzlich überrollte! Und wie glücklich waren wir erst, als wir drinnen einen Haufen mit frisch geschichtetem Brennholz vorfanden.

Solange ich noch meine eigene Hand vor Augen sehen konnte, sammelte ich draußen trockenes Anzündholz. Derweil versuchte sich mein Kumpel am Kamin – dieser befand sich direkt zwischen den beiden Stockbett-Enden. Wir hatten weder Paraffin noch Öl. Doch mein Freund war geschickt. Selbst als es bereits zappenduster wurde, fütterte er das winzige Flämmchen mit Ästen, bis es mit seiner Wärme den Raum ausfüllte. Später gelang uns sogar, etwas darauf zu kochen – ziemlich mühselig ohne Rost oder Dreibein. Schließlich wurde das Feuer immer gieriger und zehrte unser Topf-Holzkonstrukt langsam von unten auf. Nur mit Spaten und Schürhacken gelang es uns zu verhindern, dass sich die Suppe über den Flammen ergoss und sie in einem Akt der Selbstzerstörung ins Jenseits hinunterspülte.

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Der Mensch wird zu einem anderen, sobald der Magen gefüllt ist und aufgeschürfte Hände und Füße endlich Ruhe finden. Wir wussten beide nicht, wann wir uns das letzte Mal so behaglich gefühlt hatten. Keine Plasmabildschirme, kein Wasser, kein Strom. Nur draußen das Meeresrauschen und drinnen ein prasselnder Kamin, während man sich selbst immer weiter in den Schlafsack einkuschelt. Blutrote Schatten tanzten über die Steinwände – von Muscheln, Töpfen oder kleinen Holzgegenständen, die andere Wanderer im Laufe der Jahre dagelassen hatten. Das dicke Logbuch am Fenstersims hatte ihre Geschichten verschlungen.

Im Geiste schritt ich den Weg ab von hier bis nach Hause: Eine ganze Insel, ein halber Tag Fähre- und Busfahrt nach Glasgow, weitere Busstunden bis Edinburgh, eineinhalb Stunden Flug und wieder mehrere Stunden Zugfahrt lagen dazwischen. Falls uns eines Tages die Mafia verfolgen sollte, wussten wir, wo wir uns verstecken würden. Über acht Meilen im Umkreis gab es sonst kein Anzeichen von menschlichem Leben. Kaum vorstellbar, wie die Schotten ohne Straßen und Wege die vielen Steine hier hergebracht hatten. Es war eine Zuflucht für alle, die es tief hinaus an den Rand des Ozeans treibt – ein Rettungsring mitten im kahlen Nirgendwo.

Am Morgen funkelte uns die Glut wie zum Abschiedsgruß entgegen. Dann erklommen wir den Küstenhang, auf dem nur Moos und hüfthohes Gras wuchs – ein mächtiger Hügeltitan der Highland-Kategorie. Die Wiese schien endlos anzusteigen. Bald verlor sich das peitschende Meeresrauschen in der Stille und was blieb war der keuchende eigene Atem. Plötzlich ein Röhren und wir sahen wieder die Hirsche am Berghang entlanggaloppieren. Weiterstapfen. Beten, dass die Schuhe trocken bleiben. So zogen sich die Meilen durch baumloses Niemalsland. Wieder Panorama, wieder Kuhgatter. Und endlich dahinter ein schmaler Feldweg, der die Hochebene durchkreuzte. Was nun? Bis zur anderen Seite der Insel war es über einen Tagesmarsch.

Keine zehn Minuten später und ein alter Geländewagen bollerte die Landstraße entlang. Wie die Wilden stürzten wir über den Gatterzaun, rannten vor und küssten unsere Daumen, bevor wir sie in den herannahenden Fahrtwind streckten. Er hielt tatsächlich. Unfassbar! Bis zum Nachmittag sollten wir es bis Port Ellen auf der anderen Inselseite schaffen – hinaus aus der Einsamkeit. Das Fazit hieraus überlasse ich jedem selbst. Mir jedenfalls öffneten die Tage den unschätzbaren Wert menschlicher Gastfreundschaft – ein Geschenk, das ohne Erwiderung auskommt. Irgendwann wird man es weitertragen, über nationale Grenzen hinaus. Sie hält einen geborgen, sie lässt einen hoffen selbst in der Fremde einem warmen Kamin und einem freundlichen Lächeln zu begegnen.

Philipp Neuweiler

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